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Vorzeitige Entlassung aus dem Dienstverhältnis gemäß § 55 Abs. 5 Soldatengesetz (SG)

Vor dem Verwaltungsgericht Koblenz (2 K 339/10. KO) wurde nachfolgendes

Urteil

erstritten:

In dem Verwaltungsrechtsstreit des Herrn S. B. ... (Kläger)

Prozessbevollmächtigte:
Rechtsanwälte Podlech-Trappmann und Kühnke, Wullener Feld 6a, 58454 Witten

gegen
die Bundesrepublik Deutschland, vertreten durch die Stammdienststelle der Bundeswehr (Beklagte)

wegen Entlassung eines Soldaten auf Zeit
hat die 2. Kammer des Verwaltungsgerichts Koblenz aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 28.09.2010 für Recht erkannt: Die Entlassungsverfügung der Stammdienststelle der Bundeswehr vom 04.01.2010 und der Beschwerdebescheid dieser Behörde vom 01.03.2010 werden aufgehoben.

Tatbestand

Der Kläger wendet sich gegen seine Entlassung aus dem Soldatenverhältnis auf Zeit wegen Dienstpflichtverletzung.

Er ist seit dem 01.04.2009 Soldat auf Zeit im Dienstgrad eines Hauptgefreiten mit einer Dienstzeit bis zum 30.09.2011. Seit Oktober 2009 besuchte er die Artillerieschule Zivilberufliche Aus- und Weiterbildung (ZAW) in Idar-Oberstein, um eine Ausbildung zum Bürokaufmann zu absolvieren.

Mit Schreiben vom 09.11.2009 meldeten Hauptfeldwebel ... und Fahnenjunker ... dem Hauptmann ... bei der ZAW Betreuungsstelle, dass der Kläger und ein weiterer Unteroffizier F. das Mittagessen in der Truppenküche der Klotzbergkaserne nicht bezahlt hätten.

Daraufhin wurde der Kläger sowie die vorgenannten Soldaten vernommen. Die Stammdienststelle der Bundeswehr teilte dem Kläger anschließend die beabsichtigte Entlassung mit und forderte ihn und seine Disziplinarvorgesetzten zur Stellungnahme auf.

Der nächste und nächsthöhere Disziplinarvorgesetzte sprachen sich gegen ein Entlassungs-verfahren aus und empfahlen stattdessen, dem Kläger einen „ausdrücklichen Hinweis“ zu erteilen. Nach Ansicht des nächsten Disziplinarvorgesetzten seien beide Soldaten bisher noch nicht disziplinar in Erscheinung getreten und sich vermutlich der Tragweite ihres Vergehens nicht bewusst gewesen. Das Dienstvergehen sei nicht so schwerwiegend, dass die militärische Ordnung oder das Ansehen der Bundeswehr bei einem weiteren Verbleiben des Klägers im Dienst ernstlich gefährdet wären.

Mit Verfügung vom 04.01.2010 entließ die Stammdienststelle der Bundeswehr den Kläger aus dem Dienstverhältnis eines Soldaten auf Zeit. Sie stützte die Entlassung auf § 55 Abs. 5 Soldatengesetz - SG -. Er habe am 09.11.2009 im Speisesaal der Truppenküche Klotzbergkaserne an der Mittagsverpflegung teilgenommen, ohne das entsprechende Verpflegungsgeld zu entrichten oder von der Verpflegungskarte abbuchen zu lassen. Damit habe er sich wegen Betruges strafbar gemacht und zugleich ein Dienstvergehen begangen. Das in ihn gesetzte Vertrauen habe er grob missbraucht, indem er gegen seine Grundpflichten zum treuen Dienen und gegen seine Wohlverhaltenspflicht verstoßen habe. Bei einem weiteren Verbleib im Dienstverhältnis wäre die militärische Ordnung durch eine Nachahmungsgefahr ernstlich gefährdet. Dies liege darin, dass die Neigung zur Disziplinlosigkeit gefördert würde. Es könne der Eindruck entstehen, dass der Dienstherr Fehlverhalten dulde. Da dem allein durch eine Entlassung entgegengewirkt werden könne, sei die Entlassung nach Ermessen zu verfügen gewesen.

Dagegen legte der Kläger am 23.01.2010 Beschwerde ein. Die Entlassung sei rechtswidrig. Er sei sich sicher, das Mittagessen bezahlt zu haben. Möglicherweise habe er insgesamt sogar zweimal gezahlt, da er - unstreitig - vorsorglich ein Verpflegungsentgelt nach Eröffnung des Vorwurfs entrichtet habe. Selbst wenn eine Dienstpflichtverletzung unterstellt würde, sei diese nicht so erheblich, dass die militärische Ordnung oder das Ansehen der Bundeswehr ernstlich gefährdet wären. Er habe sich bis dato tadellos verhalten.

Die Beschwerde wies die Stammdienststelle der Bundeswehr mit Beschwerdebescheid vom 01.03.2010 zurück. Die zulässige Beschwerde sei unbegründet. Die Voraussetzungen des § 55 Abs. 5 seien erfüllt. Hierzu wiederholt und vertieft sie die Begründung der Entlassungsverfügung. Ergänzend führt sie aus, dass das System der Truppenverpflegung die Einsatzbereitschaft der Streitkräfte sicherstelle und nur dann funktioniere, wenn darauf Verlass sei, dass alle Nutzer ohne nähere Prüfung zahlungsbereit seien. Des Weiteren wäre das Ansehen der Bundeswehr in der Öffentlichkeit ernstlich gefährdet. Die Öffentlichkeit hätte nämlich kein Verständnis dafür, wenn ein Soldat, der das Vermögen des Dienstherrn gefährdet habe, weiterhin im Dienst bleibe. Die Entscheidung sei schließlich auch ermessensgerecht und verhältnismäßig. Denn die Verhältnismäßigkeit werde durch die Tatbestandsmerkmale des § 55 Abs. 5 SG konkretisiert, die hier gegeben seien.

Mit der am 23.03.2010 erhobenen Klage vertritt der Kläger die Ansicht, dass ihm das vorgeworfene Fehlverhalten nicht nachzuweisen sei. Das Vorgehen der Beklagten sei in Anlehnung an die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts zu Bagatellkündigungen als unverhältnismäßig anzusehen.

Der Kläger beantragt,

die Entlassungsverfügung der Stammdienststelle der Bundeswehr vom 04.01.2010 und den Beschwerdebescheid dieser Behörde vom 01.03.2010 aufzuheben.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie ist der Auffassung, die Klage sei unbegründet. Hierzu nimmt Sie auf die Begründung der Entlassung und des Beschwerdebescheids Bezug. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts sei die Bereicherung durch einen Berufs- oder Zeitsoldaten eine höchst verwerfliche Tat. Ein Soldat zerstöre auf diese Weise das Vertrauensverhältnis zu seinem Dienstherrn. Der Wert der Bereicherung sei für einen solchen Vertrauensbruch unerheblich. Die große Nachahmungsgefahr zeige sich gerade darin, dass sich der Kläger bis zu dieser Verfehlung tadelfrei geführt habe und dennoch der Versuchung erlegen sei. Es werde von vielen Soldaten als „Kavaliersdelikt“ angesehen, die Verpflegung nicht zu bezahlen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands nimmt das Gericht Bezug auf die zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze, die beigezogenen Personal- und Verwaltungsakten und auf die Sitzungsniederschrift. Ihr Inhalt war Gegenstand der mündlichen Verhandlung.

Entscheidungsgründe

Die zulässige Klage ist begründet. Die Entlassung des Klägers aus dem Soldatenverhältnis auf Zeit und der dazu ergangene Beschwerdebescheid sind rechtswidrig und verletzen den Kläger dadurch in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).

Nach § 55 Abs. 5 SG kann ein Soldat auf Zeit während der ersten vier Dienstjahre fristlos entlassen werden, wenn er seine Dienstpflichten schuldhaft verletzt hat und sein Verbleiben in seinem Dienstverhältnis die militärische Ordnung oder das Ansehen der Bundeswehr ernstlich gefährden würde. Diese Voraussetzungen sind im Fall des Klägers nicht erfüllt.

Dabei braucht nicht aufgeklärt zu werden, ob der Kläger die ihm vorgeworfene Dienstpflichtverletzung tatsächlich begangen hat. Denn selbst dann, wenn der Vorwurf der Beklagten als wahr unterstellt wird, sind die Voraussetzungen für eine Entlassung nach § 55 Abs. 5 SG nicht gegeben, weil das Verbleiben des Klägers im Dienstverhältnis die militärische Ordnung und das Ansehen der Bundeswehr nicht ernstlich gefährden würde.

Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, der die Kammer folgt, muss die Gefährdung der militärischen Ordnung die Einsatzbereitschaft der Bundeswehr betreffen und gerade als Auswirkung der Dienstpflichtverletzung drohen. Sie muss zudem ernstlich sein. Zwar können Dienstpflichtverletzungen auch dann eine ernstliche Gefährdung der militärischen Ordnung herbeiführen, wenn es sich um ein leichteres Fehlverhalten handelt oder mildernde Umstände hinzutreten, jedoch ist bei der Gefährdungsprüfung auch einzubeziehen, ob die Gefahr für die Einsatzbereitschaft der Bundeswehr durch eine Disziplinarmaßnahme abgewendet werden kann. Auf dieser Grundlage haben sich in der Rechtsprechung Fallgruppen herausgebildet, bei denen eine ernstliche Gefährdung der militärischen Ordnung regelmäßig gegeben ist. Das ist etwa der Fall, wenn die Dienstpflichtverletzung im militärischen Kernbereich liegt und damit die Einsatzbereitschaft unmittelbar beeinträchtigt. Außerhalb dieses Bereichs kann eine ernstliche Gefährdung anzunehmen sein, wenn in der Dienstpflichtverletzung eine erhebliche Straftat liegt, wenn Wiederholungsgefahr besteht oder wenn eine Nachahmungsgefahr abzuwenden ist. Wiederholungsgefahr setzt die begründete Befürchtung voraus, dass der Soldat eine weitere Dienstpflichtverletzung begehen wird. Nachahmungsgefahr kann entstehen, wenn es sich bei der Dienstpflichtverletzung um eine Disziplinlosigkeit handelt, die in der Truppe als allgemeine Erscheinung auftritt oder um sich zu greifen droht. Wiederholungs- und Nachahmungsgefahr können nur nach einer einzelfallbezogenen Würdigung der konkreten Dienstpflichtverletzung angenommen werden (BVerwG, Beschluss vom 16.08.2010 - 2 B 33.10 - juris Rn. 6 ff.; vgl. OVG RP, Urteil vom 14.07.2006 - 10 A 10243/06. OVG - ESOVGRP). Nach diesen Grundsätzen ist eine ernstliche Gefährdung der militärischen Ordnung im Fall des Klägers nicht anzunehmen.

Insbesondere hat die ihm vorgeworfene Dienstpflichtverletzung nicht zu einer Nachahmungsgefahr geführt. Die Beklagte hat dem Gericht keine einzelfallbezogenen Umständen mitgeteilt, die auf eine konkret bestehende Nachahmungsgefahr gerade im Fall des Klägers schließen lassen. Auch nach schriftlichem gerichtlichem Hinweis auf den Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom 16.08.2010 - 2 B 33.10 - mit Bitte um Überprüfung der Entlassung und auf gerichtliche Nachfrage in der mündlichen Verhandlung hat die Beklagte keine Tatsachen vorgetragen, die die Annahme einer Nachahmungsgefahr begründen. Der Hinweis darauf, dass viele Soldaten es als „Kavaliersdelikt“ ansähen, die Verpflegung nicht zu bezahlen, lässt in dieser allgemein gehaltenen Form keinen ausreichenden Bezug zu dem Fall des Klägers und der Situation in der Truppenküche der Klotzbergkaserne erkennen. Entsprechendes gilt für die Argumentation, dass nicht der Eindruck entstehen dürfe, der Dienstherr dulde Fehlverhalten. Weiter ergibt sich eine Nachahmungsgefahr auch nicht schon daraus, dass sich der Kläger bislang tadellos geführt habe und dennoch der Versuchung einer Dienstpflichtverletzung erlegen sei. Denn dieses Argument tritt letztlich auf alle erstmalig begangenen Dienstpflichtverletzungen gleichermaßen zu. Auch sonst sind für das Gericht keine konkreten Anhaltspunkte für eine Nachahmungsgefahr ersichtlich.

Zudem bestehen keine zureichenden konkreten Anhaltspunkte für eine Wiederholungsgefahr. Der Kläger hat sich bislang tadellos verhalten. Auch seine Reaktion nach Eröffnung des Vorwurfs, er habe das Mittagessen nicht bezahlt, lässt eine Wiederholungsgefahr nicht erkennen; insbesondere hat er das Verpflegungsentgelt nachträglich entrichtet und damit den etwaigen Fehlbetrag beglichen. Weiter spricht gegen die Annahme einer Wiederholungsgefahr die Einschätzung des nächsten Disziplinarvorgesetzten des Klägers. Dieser nahm dahingehend Stellung, dass der Kläger bisher noch nicht disziplinar in Erscheinung getreten und sich vermutlich der Tragweite des Vergehens nicht bewusst gewesen sei.

Schließlich beeinträchtigt die dem Kläger vorgeworfene Dienstpflichtverletzung die Einsatzbereitschaft der Bundeswehr nicht unmittelbar und ist bereits wegen der geringen Schadenshöhe von 2,70 € keine erhebliche Straftat.

Des Weiteren würde das Verbleiben des Klägers in seinem Dienstverhältnis auch das Ansehen der Bundeswehr nicht ernstlich gefährden. Denn die vorgeworfene Dienstpflichtverletzung betraf nicht die Öffentlichkeit, fand nicht in der Öffentlichkeit statt und hat sonst keine weitere Aufmerksamkeit nach sich gezogen.

Anmerkung:

Die Beklagte kann innerhalb eines Monats nach Zustellung des Urteils die Zulassung der Berufung durch das Oberverwaltungsgericht Rheinland-Pfalz beantragen. Insoweit kann die Berufung nur dann zugelassen werden, wenn

  1. ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils bestehen,
  2. die Rechtssache besondere tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeiten aufweis,
  3. die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat,
  4. das Urteil von einer Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts, des Bundesverwaltungsgerichts, des gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf diese Abweichung beruht oder
  5. eine der Beurteilung des Berufungsgerichts unterliegender Verfahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt, auf dem die Entscheidung beruhen kann.

Über den Fortgang der Angelegenheit werden wir berichten.

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